Das drohende Ende der repräsentativen Demokratie
Reinhard Hildebrandt • (Last Update: 18.12.2016)
Kooperationschancen und -hindernisse zur Erhaltung des formlosen Gegenhalts in der Gesellschaft.
Die repräsentative Demokratie ist entgegen einer weit verbreiteten Meinung eine endliche Struktur. Gelingt es dem Staat nicht mehr, den formlosen Gegenhalt zu erhalten, den die gesellschaftlichen Formationen untereinander erzeugen, naht auch das vorzeitige Ende der repräsentativen Demokratie. Denn ist der Staat maßlosen „Gemeinwohlbelangen“ starker gesellschaftlicher Kräfte ohne hilfreiche Kooperationspartner ausgeliefert, muss er die Untergrabung seiner vom „Volk als Ganzes“ abgeleiteten Legitimation zur Erhaltung der Gesellschaft chancenlos hinnehmen. Die Zivilgesellschaft kann er als Kooperationspartner gewinnen, sofern er bereit ist, die seiner Hierarchie eigene starre Legitimationskette aufzubrechen und als zusätzliche Legitimationsquelle das sich selbstbestimmende Individuum anzuerkennen.
1. Das bestehende Ungleichgewicht zwischen Wirtschaft und Staat
Wie wenig Gegenwehr der Staat in einigen „westlichen Gesellschaften“ den in der Wirtschaft verankerten hegemonialen Formationen noch entgegensetzt, demonstrieren einige Zeitungsmeldungen aus dem kurzen Zeitraum von September bis Dezember 2010, denen noch vielfältige gleichlautende Informationen aus anderen Zeitungen hinzugefügt werden könnten. So beklagte am 12. 11. 2010 die Vorsitzende von Transparency International Deutschland e.V., Edda Müller, dass nach einer Studie des IWF ein „eindeutiger Zusammenhang zwischen Lobbyausgaben von Banken“, die zur Beeinflussung des amerikanischen Kongresses verausgabt werden, und „dem Risikoverhalten bei der Kreditvergabe besteht“. „Je mehr Banken in ihr Lobbying investieren, desto risikoreicher vergeben sie Kredite“ (Tagesspiegel, 12. 9. 2010). Offenbar konnten Bank-Lobbyisten als Gegenleistung für materielle und immaterielle Zuwendungen von Mitgliedern des Kongresses eine stillschweigende oder sogar offene Zustimmung für risikoreichere Kreditvergaben erwarten. Der in einem Bericht der OECD zwar bemängelte, aber in den USA hochgelobte schnelle Personalwechsel zwischen Politik und Banken scheint dieses Verhalten noch zu fördern (ibid.).
Christian Bommarius wies in seinem in der Frankfurter Rundschau unter der Überschrift „Lobbyisten an der Macht“ (11./12.9.2010) publizierten Leitartikel auf den vor gut einem Jahr vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg begangenen „Verstoß gegen die Hygienevorschriften der Gesetzes-Produktion“ hin. „Die vom Minister beauftragte britische Großkanzlei, eine Rechtsfabrik mit 2400 Anwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern, schrieb einen Entwurf zum Kreditwesengesetz, der zu Guttenberg offenbar so gut gefiel, dass er den Text an die anderen Ministerien mit der Signatur der Kanzlei weiterleiten ließ.“ Bommarius bezeichnete diesen Vorgang als „Abdankung der Ministerialbürokratie“. Eva Roth schloss sich in ihrem Artikel „Abgemagert, gar nicht dick und fett – Staatsquote in Deutschland niedrig“ (Frankfurter Rundschau, 24.9.2010) dieser Beurteilung an und kritisierte die seit Jahren zu beobachtende quantitative und qualitative Ausdünnung sowie finanzielle Schlechterstellung der Staatsbediensteten.
Die von CDU/CSU und FDP gebildete Bundesregierung ging laut Bommarius in einem anderen Fall sogar noch einen Schritt weiter. Sie ließ sich den Gesetzestext von den durch das Gesetz Betroffenen gleich selbst diktieren. „So geschehen im Fall des sogenannten Sparpakets für die Pharmaindustrie, ein Gesetzesvorhaben, das zum guten Teil bis zu Punkt und Komma von Vertretern der forschenden Pharmaindustrie, d.h. von wenigen großen Pharma-unternehmen, formuliert worden ist. Das Ergebnis ist entsprechend: Künftig wird der Nutzen neuer Medikamente nicht mehr von Kontrollbehörden im Gesundheitssystem allein nach wissenschaftlichen, sondern auch nach politischen Kriterien ermittelt.“(ibid.). Ein neu entwickeltes Medikament muss außerdem erst dann vom Markt genommen werden, wenn nachgewiesen worden ist, dass es gegenüber bereits am Markt eingeführten Medikamenten keinen zusätzlichen Nutzen bringt.
Hinter dieser Vorgehensweise der schwarz-gelben Bundesregierung steht eventuell das erneuerte Angebot der Pharmaindustrie, als Gegenleistung für eine von der deutschen Regierung gewährte völlig freie Preisgestaltung für Pharmaprodukte die Forschung für neue Medikamente von den USA nach Deutschland zu verlegen und Deutschland wieder – wie in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg – als führenden Standort der Pharmaforschung zu installieren. Indirekt bestätigten Koalitionspolitiker diesen Zusammenhang, indem sie andeuteten, dass mit dieser Bestimmung „die Attraktivität des ‚Pharmastandorts Deutschland’ gestärkt“ werde (ibid.). Die freie Preisgestaltung in Deutschland hat jetzt bereits im Vergleich zu Schweden bei den Krankenkassen fünfzig bis hundert Prozent höhere Kosten verursacht. Die Krankenkassen reichen die gestiegenen Kosten in Form von höheren Beiträgen und schlechteren Leistungen an ihre Mitglieder weiter (Spiegel Online, Pharma-Giganten kassieren in Deutschland ab, 14.9.2010).
Noch einen weiter reichenden Schritt unternahm die schwarz-gelbe Bundesregierung in der Festschreibung der verlängerten Laufzeiten für Atomreaktoren. Unter Ausschaltung des Parlaments schloss sie mit den Energiekonzernen eine privatrechtliche Vereinbarung und versuchte zunächst, die besonders prekären Teile für einige Zeit geheim zu halten. Überdies scheint sie die Vertragspartner gefragt zu haben, wie viel ihrer Mehreinnahmen sie denn großzügigerweise bereits wären, an die Staatskasse abzuführen. Ein besseres Beispiel für die Unterordnung der Regierung unter von machtvollen hegemonialen Formationen formulierte „Gemeinwohlbelange“ wäre kaum vorstellbar (Markus Sievers/ Jakob Schlandt: Sorglos-Paket für die Atomkonzerne, Frankfurter Rundschau, 11./12.9.2010).
Aber das Gemeinwohl einer Gesellschaft wird zweifellos verletzt, wenn der in älteren, bereits steuerlich abgeschriebenen Nuklearreaktoren erzeugte Strom den Zuwachs erneuerbarer Energie für längere Zeit verdrängt und gleichzeitig der Steuerzahler für Mehrkosten in der Stilllegung von Reaktoren sowie für die Entsorgung des radioaktiven Abfalls allein aufkommen soll, während der Gewinn bei den Stromkonzernen anfällt; ganz zu schweigen von dem Problem der immer noch ungeklärten Entlagerung von Atommüll. Wie will eine christlichkonservativ-liberale Koalition nach diesem Kniefall vor den Energiekonzernen den Forderungen anderer hegemonialer Formationen künftig begegnen, die ihre Partikular-interessen ebenfalls als vom Gesetzgeber uneingeschränkt zu erfüllende Gemeinwohlbelange deklarieren?
Angesichts der zunehmenden Schwäche des Staates gegenüber hegemonialen Formationen aus allen gesellschaftlichen Bereichen wird die Frage immer dringlicher, warum der Staat nicht nach einem geeigneten Kooperationspartner sucht, mit dessen Hilfe er der für den Fortbestand der Gesellschaft abträglichen Übermacht hegemonialer Formationen ökonomischer Provenienz genügend starke Kräfte entgegensetzen kann?
Wenn man den formlosen Gegenhalt in der aus einer Vielzahl von endlichen Strukturen bestehenden Gesellschaft optimieren möchte, können Gemeinwohlbelange starker hegemonialer Formationen nicht so behandelt werden, als ob es Pflicht des Staates sei, sie kritiklos umzusetzen. Nach der Umsetzung jener Gemeinwohlbelange von den eigenen Fehlentscheidungen abzulenken, indem die eigene fehlerhafte Politik als „Versagen“ der Zivilgesellschaft deklariert wird, die sich nicht rechtzeitig und genügend stark als Kontrollfaktor betätigt hätte, ist unredlich und überschätzt außerdem die Durchschlagskraft des von Habermas der Zivilgesellschaft zugedachten Belagerungszustandes bei weitem. Sinnvoller und weiterführender wäre die Suche nach einer in geordneten Bahnen verlaufenden Kooperation von Staat und Zivilgesellschaft. Vor allem müsste den Institutionen und Organisationen der Zivilgesellschaft vom Staat mehr Gehör geschenkt werden. Noch viel dringlicher für die Kooperation mit der Zivilgesellschaft wäre jedoch die Beseitigung hierarchisch bedingter Beschränkungen staatlicher Verwaltung. Die Scheu des Staates vor der Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Aktivitäten erklärt sich zum Teil aus diesen Einschränkungen.
1.1. Zunehmende Forderungen nach Volksabstimmungen als Ausdruck des Versagens der repräsentativen Demokratie
Anlässlich der Protestaktionen gegen den Abriss des Stuttgarter Kopfbahnhofs und seiner Ersetzung durch einen Untergrund-Durchgangsbahnhof an anderer Stelle (Großprojekt Stuttgart 21) überkreuzen sich zwei Legitimitätsansprüche. Die Landesregierung von Baden-Württemberg berief sich auf Recht und Gesetz, auf langjährige Planungen, notariell hinterlegte Vertragsabschlüsse und ein parlamentarisch einwandfreies Verfahren. Die Protestler wiesen auf die nicht ausreichend berücksichtigten Interessen der Bevölkerung und den weiterhin bestehenden Zweifel am Sinn des Bauvorhabens hin. Die einen verteidigten die Regeln des Rechtsstaats, während die anderen darauf verwiesen, dass inzwischen 63 Prozent der Stuttgarter Bevölkerung gegen den Neubau votieren und nur noch 26 Prozent dafür.
Wolfgang Kraushaar zeigte in seinem Artikel „Stuttgart 21: Mehrheit? Welche Mehrheit?“ im Tagesspiegel vom 5. 10. 2010 die Grenze der Berufung auf die repräsentative Demokratie auf. Die Erringung einer parlamentarischen Mehrheit sei keinesfalls als ein Freibrief für die folgende Legislaturperiode zu verstehen und bei Großprojekten müsse man in der Lage sein, sich gravierend veränderten Konstellationen zu stellen. Der Protestbewegung hielt er aber auch vor, dass sie zwar eine totale Kehrtwende erzwingen wolle, aber bis zu jenem Zeitpunkt noch keinen gangbaren Weg zu einem Kompromiss aufgezeigt hätte. Die sinnvolle Variante eines abgespeckten Kopfbahnhofs hätte sie bisher nicht in Erwägung gezogen (Was sie jedoch später nachholte).
Evelyn Finger bezog sich in ihrem Artikel über das Projekt Stuttgart 21 ebenfalls auf die zwei Legitimitätsansprüche. Die einen bestünden darauf, dass Demokratie im Parlament stattfindet, während die anderen sagten, dass Demokratie auf dem freiheitlichen Impuls einzelner Bürger bis hin zu Entscheidungen durch eine Volksabstimmung beruhe (Finger, Evelin, Wir beißen nicht – Plebiszit ist nicht das Gegenteil von Parlament. Die Politik sollte weniger Angst vor dem Souverän haben, Die Zeit, 8. 7. 2010). „Die Deutschen wollen mitbestimmen“ heißt es bei ihr, „und sind keineswegs politikverdrossen, allenfalls politikerverdrossen“. (ebd.). Die debattierende Öffentlichkeit müsse sich in der parlamentarischen Debatte wiederfinden, wolle man den Eindruck einer „Scheindemokratie“ oder einer „Parteienoligarchie“ (Karl Jaspers) vermeiden. Die repräsentative Demokratie, urteilte sie weiter, dürfe nicht losgelöst vom Souverän erscheinen (ebd.).
In die gleiche Richtung zielte Colin Crouch in seinem bereits 2008 erschienenen Buch „Postdemokratie“. Er konstatierte: „Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind (und heute sogar in vielerlei Hinsicht weiter ausgebaut werden), entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für die vordemokratischen Zeiten. Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.“ (Aus dem Englischen übersetzen von Nikolaus Gramm, Frankfurt am Main, 2008, zitiert bei Claus Leggewie, Was nach der Demokratie kommt, Die Zeit, 26. 6. 2008). Crouch zeigte sich überzeugt, dass die Regierungen nicht mehr in der Lage seien, „private Macht zu begrenzen, sie werden missmutig abgewählt, weil sie wenig ausrichten können.“ Postdemokratie heiße also: In einem gewissen Sinne haben wir die Idee der Herrschaft des Volkes hinter uns gelassen, um die Idee der Herrschaft selbst infrage zu stellen.“ (ebd.).
In ihrem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau „Ein Stück Staatsgewalt zurückholen“, vom 15. 12. 2010 zielte Christine Hohmann-Dennhardt, Richterin am Bundesverfassungsgericht, ebenfalls auf diesen wunden Punkt. Anlässlich der Proteste gegen das Projekt Stuttgart 21 fragte sie, wie viel direkte Demokratie es denn sein dürfe? Ihre überraschende Antwort lautete: so viel Demokratie, wie die Bürger nachfragen! Die Reputation des Parlaments könne durchaus Abbruch erleiden, wenn parlamentarische Entscheidungen per Volksabstimmung zunichte gemacht werden, aber auch umgekehrt gelte, dass das Beharren auf politischen Entscheidungen, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, für die Demokratie schädlich sei.
Sie gelangte zu dieser Auffassung, weil offenbar ihre Interpretation des Artikels 20 Absatz II Satz 1 des Grundgesetzes (Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus) nicht mehr mit der bisher vorherrschenden Auffassung der Grundgesetzkommentatoren vollkommen übereinstimmt. Danach besteht zwischen dem Volk und dem Parlament kein Rechtsverhältnis der Repräsentation, „weil das Volk nur im Staat, aber nicht als solches ein Rechtssubjekt ist, dem Rechte und Pflichtenzukommen könnten;…“ (Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 5, S. 26). Gemäß dieser Auslegung muss „zwischen einer politischen Idee und ihrer Verwirklichung im positiven Recht“ (ebd.) unterschieden werden. Hingegen schrieb Christine Hohmann-Dennhardt: „Mehrheitlich will also das Volk die Gewalt, die von ihm ausgeht, öfter zu sich zurückkehren lassen und sie selbst ausüben“. Das Volk wolle „mehr Demokratie in direkter Form wagen“.
Alle Staatsgewalt geht laut Bonner Kommentar zum Grundgesetz jedoch von einer „nichtorganisierten“, „nichtformierten“ „politisch ideellen Einheit“ aus, die „personell und sachlich dauernd im Fluss“ ist und dennoch als „konkret geistige Ganzheit“ präsent sein soll. Auf diesen abstrakten Volksbegriff, in dem das reale Volk nicht mehr vorkommt, bezieht sich der Staat, wenn er seine Herrschaft über das Volk begründet. Legitimieren lässt er sich durch periodisch stattfindende Wahlen. Der zur Abgabe seiner Stimme aufgerufene wahlberechtigte Teil des Volkes kann aber nur die gerade im Amt befindlichen Repräsentanten bestätigen oder abwählen, nicht jedoch Kraft Wahlakt das Herrschafts-Beherrschungs-Verhältnis aufkündigen, das den Aktivbürger und alle anderen Teile des Volkes zu Beherrschten degradiert. Indem Hohmann-Dennhardt postuliert, dass prinzipiell so viel Demokratie gewährt werden soll, wie die Bürger nachfragen, öffnet sie implizit das gesamte Feld bis hin zur Infragestellung des Repräsentationsverhältnisses und sogar darüber hinaus bis in den Raum totaler Verneinung von Herrschaft.
Bereits Marquis de Condorcets („Fortschritte des menschlichen Geistes“, 1794) vertrat die Ansicht, das die Mitsprache vieler Bürger in einer „kleinteiligen Gliederung in lokale Räume“, zu einer permanenten öffentlichen Debatte der Bürger („geordneten Beratungen“) führen würde. Er favorisierte keine nationalen Volksentscheide, vielmehr ging es ihm darum, „durch kommunale Zusammenkünfte, eben jene Primärversammlungen, Orte der Debatte zu schaffen, in denen die Bürger Argumente, Gesetzesvorschläge und Kritik zur Sprache bringen können“. (Daniel Schulz, „Die Politiker – das sind wir – Schon der französische Philosoph und Revolutionär Condorcet wusste, dass ein Parlament allein noch keine Demokratie macht“, in: Die Zeit, 8. 7. 2010) Die an vielen Orten gleichzeitig stattfindenden Bürgerforen sollten durch „mehrere Vermittlungsinstanzen“ mit der „Nationalrepräsentation des Parlaments“ verbunden sein. „Der souveräne Volkswille“, so Concorcet, „bleibt für jede direkte Aneignung – durch eine Partei, eine Avantgarde, einen Volkstribun – unverfügbar. Selbst eine absolute Mehrheit der Bürger hat nicht die absolute Macht.“ (ebd.).
Nach Condorcet findet die demokratische Willensbildung „als ein offenes Streitgespräch über die Zeit hinweg an verschiedenen Orten statt,…“(ebd.) Sie „lässt sich nur im Konflikt bewältigen; höhere Wahrheiten stehen dieser politischen Ordnung nicht zur Verfügung. Selbst eine vernünftige Verfassung ersetzt nicht den Streit um deren Auslegung. Unverfügbar bleiben für Condorcet allein die Menschen- und Bürgerrechte“ (ebd.). Condorcet sah bereits das Klagerecht gegen Gesetze vor, die seine Rechte verletzen (Bürgerveto).
1.2. Emanzipationsmöglichkeiten der Bürger vom Staat durch die Nutzung neuer Kommunikationstechnologien?
Technologieorientiert und letztlich in die gleiche Richtung wie Hohmann-Dennhardt zielten Johannes Bohnen und Jan-Friedrich Kallmorgen in ihrem Artikel „Wie Web 2.0 die Politik verändert“ in der Zeitschrift Internationale Politik, Juli/August 2009. Im Untertitel ihres Aufsatzes, „Technologie formt eine neue Bürgergesellschaft“ zeigten Johannes Bohnen und Jan-Friedrich Kallmorgen ihre Argumentationslinie auf und begannen mit folgender Feststellung: „Erstmals in der Geschichte moderner Demokratien ermöglichen neue Kommunikationstechnologien eine umfassende Emanzipation der Bürger vom mächtigen ‚Vater Staat’ und den etablierten Parteimechanismen.“
Um allen besorgten Vorwürfen zu begegnen, sie wollten die Autorität des Staates infrage stellen, betonten die Autoren, es ging ihnen nicht „um die Schwächung der repräsentativen Demokratie, sondern um deren Stärkung“ (ebd.). Bohnen/Kallmorgen sagten sogar „eine Bewegung zurück zur basisdemokratischen Polis“ voraus, in der die Bürger „mehr Mitsprache einfordern und sie bekommen“. Die neuen Technologien hätten das Potential, „die Möglichkeiten politischer Partizipation zu revolutionieren“. Die neue Form des „Agenda-Setting“ kehre die Prinzipien traditioneller Kampagnen um. Jetzt gelte im Gegensatz zu früher „viele statt einzelne, dezentrale Selbstorganisation und Abgabe von Kontrolle“. Immer mehr internetgestützte Sammelbewegungen von gut vernetzten Bürgern entstünden, ausgerüstet mit einer eigenen politischen Agenda zu bestimmten Themen. Diese „politischen Netzwerke“ hielten durch die neuen Technologien „einen starken Hebel in ihren Händen“, mit dem sie in der Lage wären, „Politik in ihre eigene Handlungslogik zu zwingen“.
Die Autoren sagten voraus: „Es werden Prozesse initiiert, in denen Politiker sich stärker und unmittelbar mit dem Anliegen der Bürger beschäftigen müssen.“ (ebd.). Als Folge der neuen Technologien werde in etablierten Demokratien die in der Politik geltende machtpolitische Handlungslogik wieder stärker von den Wählern bestimmt. Als herausragende Beispiele nannten die Autoren die vom Obama-Unterstützer Jim Gilliam begründete WhiteHouse2.org-Netzwerk, das Al Gores WeCanSolveIt.org. und das Politics-360.org. Sie gäben die Richtung vor.
Auf praktische Beispiele verwies Kerstin Sack in ihrem Artikel „Bürgerbewegung ist machbar“ in der Frankfurter Rundschau vom 23. November 2010. So entscheiden in 67 Kommunen Deutschlands direkt über Teile des Etats. In Venezuela, Ecuador und Bolivien erarbeiteten verfassungsgebende Versammlungen neue Verfassungen, die in Referenden verabschiedet wurden und bei wichtigen Fragen wie beispielsweise der Wasserversorgung Volksentscheide vorsehen. In der Schweiz hat die Mitentscheidungsmöglichkeit der Bürger schon eine lange Tradition.
Die amerikanische Soziologin Saskia Sassen forderte zivilgesellschaftlich Engagierte auf, die „Potentiale des Netzes“ zu nutzen und von der Finanzbranche zu lernen, die das World Wide Netz virtuos in Anspruch nehme (Frankfurter Rundschau, 23.11.2010). Problematisch bliebe jedoch die Abhängigkeit von den Unternehmen, von denen die Netzwerke betrieben werden. Sie arbeiteten gewinnorientiert, deshalb müsse man Technologien verfügbar machen, „die auch unabhängig von kommerziellen Interessen funktionieren, Technologien, die in der Hand der Zivilgesellschaft sind“ (Tagesspiegel, 9.11.2010).
Das von Google initiierte Co:llaboratory, ein Multistakeholder Think-Tank und PolicyLabor, stellte im Abschlussbericht seiner Tagung „Das Internet & Gesellschaft – „Co:llaborator“, Oktober 2010, 1. Aufl. die Konzepte von »Open Government« und »Offene Staatskunst« vor, die schon vereinzelt im In- und Ausland erprobt und eingesetzt würden und durchaus in die politische Kultur Deutschlands integriert werden könnten. Google hatte zwischen Juli und September 2010 rund 30 Experten aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Unternehmen zusammengeführt, um die Möglichkeiten der neuen Kommunikationstechnologien auszuloten.
Laut Abschlussbericht gibt das Konzept „Offene Staatskunst“ den Entscheidungsträgern im Staat ihre Handlungsfähigkeit zurück. Das Konzept baue auf der strategischen Perspektive eines Open Government auf und mache das Handeln von Regierung und Verwaltung transparent, partizipativ und kollaborativ (ebd. S.14). Für die Experten lautet die entscheidende Frage: „Wie kann in einer bisher abgeschotteten, nahezu geheimen Sphäre des Regierens eine offene, partizipative Strategie der Macht erfolgreich sein? Um dies herauszufinden, suchen sie nach den geeigneten Schnittstellen im Lebenslauf eines „Policy Cycle (Initiierung, Formulierung, Implementierung, Evaluierung)“, an denen die „Offene Staatskunst“ andocken kann, um Effektivität, Kapazität und Legitimität von Politik und Verwaltung zu verbessern (ebd.S.16).
Den auf Machtbegrenzung
zielenden zivilgesellschaftlichen Forderungen nach Partizipation und
Transparenz begegnen die Autoren nicht mit Skepsis, sondern
begreifen sie umgekehrt als willkommene Instrumente für
Regierung und Verwaltung, „um politische Handlungen zu
entwerfen, zu implementieren und zu legitimieren“ (ebd.S.17).
„Offene Staatskunst“ erhöhe die Legitimität
von politischen Prozessen. Offene Prozesse böten die
Möglichkeit, „externe Experten in die Umsetzung von
Verwaltungsmaßnahmen einzubeziehen“, z.B. mittels
„ePartizipation“ (elektronische Form von
Bürgerbeteiligung) Bürger unmittelbar über
elektronische Wahlplattformen in Entscheidungsprozesse einzubinden
(eEmpowerment) (ebd.S.20/33). Durch den Einsatz von
„Kollaborationssoftware“ erweiterte
Mitgestaltungsmöglichkeiten erzeugten mehr Bindung und
Akzeptanz für die politischen Entwürfe und erhöhten
das Vertrauen der Bürger in den Staat (ebd.S.19).
Im
Idealfall könne sogar eine „gelungen Partizipation zur
Kollaboration führen“, denn die Bürger verfügten
über eine „gesellschaftlich relevante Expertise, die
Politik und Verwaltung sonst nur durch externe Beratung erlangen
könnten“ (ebd. S.20/33). „Frei zugängliche
Datenbestände, die auf offenen Datenformaten basieren“,
ermöglichten danach einfachere und zugleich effektivere
Erfolgs- oder Misserfolgskontrollen (ebd.S.20). Schließlich
könnten „alle Prozessketten“ in „klassischen
Verwaltungsprozessen“ anhand einer
„Wertschöpfungsketten-Analyse untersucht und
umstrukturiert werden“ und der Bürger wandele sich vom
reinen Konsumenten staatlicher Leistungen zum ’Prosumer’
(ebd.S.23/34).
Wie weit die konkrete Praxis jedoch von den
verfügbaren Möglichkeiten noch entfernt ist, beschrieb
eine Teilnehmerin im folgenden Zitat: „Statt den ersten
Diskussionsentwurf (das ist ein Gesetzesentwurf vor der
Beschlussfassung im Kabinett) in einem intransparenten Verfahren nur
an andere Ressorts und an ausgewählte Lobbyisten zu
verschicken, könnte er auch veröffentlicht werden, frei
zur Stellungnahme durch jede und jeden. Und die Stellungnahmen und
Änderungswünsche wären ebenfalls für alle offen.
Ja man könnte sogar eine Texthistorie offen legen: welche
Änderungen an einem Vorschlag wurden gemacht und auf welchen
Input gehen diese zurück?“ (ebd. S.25).
Aber, bezogen
auf die konkrete Praxis, stellte sie mit einiger Resignation fest:
„Zu schwer wiegt noch die Furcht vor dem Kontrollverlust. Was
eigentlich erstaunlich ist, denn wir erleben ja seit einiger Zeit,
wie vor unseren Augen politische Macht mehr und mehr erodiert. Gibt
es den Entscheidungsspielraum wirklich noch, den die Vertreter von
Bundesministerien und Bundestag so vehement verteidigen?“
(ebd. S.25).
Nur für die kommunale Ebene sah sie gewisse
Fortschritte. Die Kommunen „sind die Vorreiter, mit
Bürgerhaushalten zum Beispiel geben sie konkrete Entscheidungen
in die Hand der Betroffenen vor Ort. Durch den lokalen Bezug allein
sehen sie schon eine höhere Qualität der Beteiligung ein
eine engere Bindung an den Prozess und sein Ergebnis“
(ebd.S.25). Ein Paradigmenwechsel von
„alles ist geheim, was nicht ausdrücklich als öffentlich gekennzeichnet ist“ zu „alles ist öffentlich, was nicht ausdrücklich als geheim gekennzeichnet ist“ (ebd.S.54),
von „Umfang und Zeitpunkt der Veröffentlichung werden von den einzelnen Behörden selbst bestimmt“ zu „alle Daten, die keiner berechtigten Datenschutz- oder Sicherheitsbeschränkung unterliegen, werden pro-aktiv, im vollen Umfang und zeitnah veröffentlicht“ (ebd.S.54),
von „veröffentlichte Daten sind für den privaten Gebrauch zur Einsicht freizugeben. Alle weiteren Nutzungsrechte sind vorbehalten und können von Fall zu Fall gewährt werden“ zu „veröffentlichte Daten sind grundsätzlich von jedermann für jegliche Zwecke, auch kommerzielle, ohne Einschränkungen kostenfrei nutzbar“ (ebd.S.55)
ist ihrer Ansicht nach demnach am ehesten in den Kommunen denkbar. Dort würden Bedenken und Argumente gegen eine umfassende Öffnung von Daten wie
Datenschutz,
Gefahr von Missdeutung und Fehlinterpretation,
das Risiko von Diskriminierungen und Missbrauch,
Vermischung von staatlichen und nicht-staatlichen Angeboten,
Angst vor Kontrollverlust,
Befürchtung der Einschränkung staatlicher Handlungsfreiheit,
Bedenken gegen die kostenlose Herausgabe von Daten für die kommerzielle Nutzung,
Bedenken wegen einer Gefährdung etablierter Geschäftsmodelle,
am ehesten erodieren (ebd. S.58), obwohl auch dort
gelte, dass Wissen Macht bedeutet („Die Daten des öffentlichen
Sektors sind in diesem Sinne eine Ressource von Wissen und damit
eine Ressource von Macht“ (ebd. S.63). Abschließend
stellten die Experten fest: „Im Kern geht es um die politisch
zu diskutierende Frage, inwieweit sich Regierung und Verwaltung
überhaupt öffnen können.“ (ebd. S.64). Dies ist
unter anderem auch eine rechtliche Frage, die es als nächstes
zu untersuche gilt. Denn „trotz Umweltinformationsgesetz,
Informations-freiheitsgesetze des Bundes und einiger Länder,
Informationsweiterverwendungs- und Verbraucherinformationsgesetz
scheint indessen in Deutschland noch eine ‚Kultur des
Aktengeheimnisses’ vorzuherrschen, die durch einige wenige
Ausnahmen (…) durchbrochen wurde“ (Hill, Hermann,
Ausführungen über „Zivilgesellschaftliche
Verwaltungen in der Informationsgesellschaft“, in: Klaus
König/Sabine Kropp (Hrsg.), Theoretische Aspekte einer
zivilgesellschaftlichen Verwaltung – Speyerische
Forschungsberichte 263, 2009, S. 205).
Als immer wieder
berechtigte Vorsicht des Staates wird die „Beliebigkeit
zivilgesellschaftlichen Engagements“ angeführt. Ohne
Zweifel ist das oberste Gebot aller staatlicher Aktivitäten die
Verlässlichkeit und Kontinuität. Z.B. ist das Prinzip der
Rechtssicherheit ein hohes Gut, gegen das der Staat nicht verstoßen
darf. Im Fokus dieser Verpflichtung ist der Staat geneigt, die
Kooperation mit Arbeitskreisen zivilgesellschaftlicher Provenienz
mit großen Vorbehalten zu betrachten. In der Verwaltung kann
man sich nie sicher sein, wie lange das auf freiwilliger Mitarbeit
beruhende Engagement der Mitglieder solcher Arbeitskreise andauert.
Insbesondere dann, wenn finanzielle Zuwendungen des Staates für
gemeinsam verfolgte Zwecke erfolgen, ist dies ein gewichtiger Grund.
Daraus folgt für den zivilgesellschaftlichen
Kooperationspartner, dass er seine organisatorische Struktur
straffen muss, Kontinuität in der Arbeit für einen
überschaubaren Zeitraum gewährleisten sollte, seine
finanziellen Mittel gegenüber dem Staat offen zu legen hat und
die strikte Überprüfbarkeit der Ausgaben ein unbedingtes
Erfordernis bildet.
2. Rückführung der Legitimation amtlichen Handelns mit Entscheidungscharakter auf das Gesamtvolk als ein entscheidendes Kooperationshindernis
Helmut Klages kam in seinem Artikel „Bürgerbeteiligung und Verwaltung“, ebenfalls publiziert in König, Klaus/Kropp, Sabine [Hrsg.], a.a.O. S. 103-112, zu einem sehr pessimistischen Resultat: „Die zusammenfassende Diagnose e i n e r – wahrscheinlich sogar d e r – entscheidenden Barriere, die uns heute von der Realisierung einer durch hohe Beteiligungsquoten charakterisierten ‚Bürgerkommune’ trennt, lautet wie folgt: Beide Seiten – abgekürzt ausgedrückt: Bürger und Verwaltung – haben gegeneinander korrespondierende Vorbehalte, die sich gegenseitig – in Sinn wechselseitig aufeinander bezogener self-fulfilling-prophecies – bestätigen und verstärken, so dass sich eine ‚Misstrauensspirale’ entwickelt, die einen ‚Teufelskreis’ darstellt.“(ebd.S.112). Auf diesem Misstrauenshintergrund wird von staatlicher Seite immer wieder die Aufrechterhaltung einer ununterbrochenen Legitimationskette propagiert.
Gemäß Hermann Hills Ausführungen über „Zivilgesellschaftliche Verwaltungen in der Informationsgesellschaft“ bedarf die Legitimation amtliches Handelns mit Entscheidungscharakter der Rückführung auf das Gesamtvolk und muss laut Art. 20 Abs. 2 GG parlamentsvermittelt sein. Die staatliche Hierarchie ist als überkommene „heilige Ordnung“ bisher unantastbar. Als auf sich selbst bezogene und in Exekutive, Legislative und Judikative gegliederte Herrschaft duldet sie das reale Volk weder über noch neben sich. Laut Hill wird „Bürgerbeteiligung … daher traditionell aus rechtlicher Sicht nur im Vorfeld staatlicher Entscheidung akzeptiert.“ (ebd. S.203).
Hill verweist jedoch auf neuere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen eine „vorsichtige Öffnung dieses Dogmas“ zu erkennen sei. So werde etwa für die Legitimation einer Entscheidung „nicht mehr allein auf eine ununterbrochene Legitimationskette über das Parlament zum Volk abgestellt“, „vielmehr“ sei „das Legitimationsniveau als Gesamtheit und das Zusammenwirken unterschiedlicher Legitimationsquellen, die je nach Sachbereich verschieden zusammengesetzt sein können, entscheidend“.(ebd.). „Eine weitere Öffnung des demokratischen Prinzips nach Art. 20 Abs. 2 GG in Hinblick auf Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt in bestimmten Bereichen“ werde „durch den Hinweis auf die Idee des sich selbstbestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung (Art. 1 Abs. 1 GG) erzielt.“ (ebd.).
Dieser Artikel lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Art 1 Abs. 1 GG fordert vom Staat aber nur, es als seine Verpflichtung anzusehen, die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen“. Seine Herrschaftsfunktion wird durch diese Verpflichtung nicht in Frage gestellt. Den sich selbstbestimmenden Menschen jedoch als Legitimationsquelle einzubeziehen, hieße entweder, den bisher abstrakten Volksbegriff („nichtorganisierte, nichtformierte politisch ideelle Einheit“, „konkret geistige Ganzheit“) aufzugeben und die Vielzahl sich selbstbestimmender Individuen bzw. das reale Volk als Legitimationsquelle der Gewalt des Staates zu bestimmen, oder den bisherigen Bezug auf den abstrakten Volksbegriff zwar beizubehalten, aber zugleich zu begrenzen, indem die Verpflichtung zur Achtung der Würde des Menschen künftig sehr viel konkreter und weitreichender als bisher auf die Vielzahl sich selbstbestimmender Individuen als zusätzliche Legitimationsquelle des Rechts bezogen wird.
Im ersten Fall würde das reale Volk uneingeschränkt die Staatsgewalt legitimieren und der Staat wäre ihm rechenschaftspflichtig. Im zweiten Fall bliebe die Herrschaft des Staates über das reale Volk nicht im gleichen Umfang wie bisher erhalten. Die Staatsgewalt verlöre ihre bisherige alleinige Definitionshoheit und sähe sich in der Ausübung ihrer Herrschaft durch eine neben ihr gleichberechtigt existierende Definitionsmacht in Gestalt des sich selbstbestimmenden Individuums nach Art. 1 Abs. 1 GG eingeschränkt. Wie wenig sich der Staat bisher jedoch bewegt hat, lässt sich aus der folgenden Bemerkung Hills entnehmen: „Obwohl somit Rechtsstaat und Demokratie in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft unter Berufung auf Leitbegriffe wie Legitimation, Verantwortung, Transparenz, Rationalität und Rechenschaftslegung schrittweise neu gedacht werden, bleiben etwa eigenverantwortliche Entscheidungen bürgerschaftlicher Gruppen über die Verwendung von Globalbudgets, etwa im Rahmen von Quartiersmanagement, nach wie vor verfassungsrechtlich problematisch.“ (ebd.).
Hermann Hill entscheidet sich in einem von ihm vorgeschlagenen Modell zur „Verknüpfung von klassischer repräsentativer Demokratie und neuen Formen kooperativer Demokratie bzw. bürgerschaftlichen Engagements nur für die stärkere Berücksichtigung der sich selbstbestimmenden Individuen. Letztere anerkennt er nicht als zweite gleichberechtigte Legitimationsquelle. In seinem Modell beschließen Gemeinderäte in ihrer Satzung, wie in Entwicklungs- und Rahmenprogrammen die Beiträge bürgerschaftlichen Engagements einbezogen werden können, z.B. durch eine „nachvollziehende Abwägung der Vorschläge aus der Bürgerschaft und eine Gemeinwohlprüfung durch den Rat“ (ebd.).
Das in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und in Abs. 2 GG geregelte Recht der kommunalen Selbstverwaltung soll durch ein „Koordinationsregime bzw. Verfahrensmuster für die Einbeziehung bürgerschaftlicher Aktivitäten und Gruppen“ ergänzt werden, „das die Auswahl, die Beauftragung dieser Gruppen mit der Bearbeitung eines bestimmten Problems, die Zuweisung von Budgets und die Art der Rechenschaftslegung beinhaltet“ (ebd.). In diesem Rahmen wären bürgerschaftliche Gruppen zu selbständigem Handeln berechtigt. Der Gemeinderat würde dieses „Konzert der vielfältigen Akteure“ dirigieren und für ein „stimmiges und nachhaltiges Ganzes“ sorgen (ebd. S.204).
Weitergehend als bei Hill bedürfte die „nachvollziehende Abwägung der Vorschläge aus der Bürgerschaft“ im Gemeinderat jedoch bei Gleichberechtigung beider Legitimationsquellen auch der Bestätigung durch die Bürger, die diese Vorschläge ursprünglich erarbeitet haben. Wenn ihr Einspruchsrecht nur aufschiebenden Charakter hätte, läge trotz gleichberechtigter Legitimationsquellen eine Kompetenzbegrenzung bei der Formulierung von Recht vor. Käme der Einspruch jedoch einem Veto gleich, dass der Gesetzgeber nur überwinden kann, indem er auf die Wünsche der Aktivbürger eingeht, läge nur eine Kompetenzabstufung vor und bei Streitfällen müsste eine von beiden Seiten zu akzeptierende vermittelnde Instanz geschaffen werden.
Nach Christoph Reichart unterscheidet sich eine „zivilgesellschaftliche Verwaltung“ vom bürokratischen oder manageriellen Verwaltungstyp: „Vor allem geht es um das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern: In der zivilgesellschaftlichen Verwaltung ist die Beziehung offen, kooperativ und tendenziell partnerschaftlich angelegt. Der Bürger hat klare Rechte und Einflussmöglichkeiten gegenüber Staat und Verwaltung und nimmt diese auch wahr. Die Verwaltung nimmt die Anliegen der Bürger ernst und mobilisiert Bürgergruppen oder zivilgesellschaftliche Organisationen, um dadurch zusätzliche Ressourcen sowie Legitimationsquellen zu nutzen.“ (Reichart, Christoph, Zivilgesellschaftliche Verwaltung aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaften, in: Klaus König/Sabine Kropp [Hrsg.], a.a.O. S.209).
So ungewöhnlich diese neuartige Gewaltenteilung zwischen Verwaltung und Aktivbürgerschaft auf dem ersten Blick auch erscheint, so vertraut ist dem Staat eine solche Situation im Verhältnis von Legislative, Exekutive und Judikative seit langem. Aus der Formulierung des Art. 20 Abs. III GG, dass Exekutive und Rechtsprechung nicht nur an das Gesetz, sondern auch an das Recht gebunden sind, ergibt sich eine Einschränkung des Gesetzgebers. Die Grundgesetzkommentatoren betonen zwar die grundsätzliche Identifizierung von „Gesetz“ und „Recht“ und meinen, das „Gesetz“ habe gewissermaßen die Vermutung für sich, zugleich „Recht“ zu sein, aber wenn z.B. oberste Richter zur Auffassung gelangen sollten, dass ein Gesetz nicht oder nicht mehr dem „Rechtsempfinden“ entspricht, würden sie an den Gesetzgeber die Forderung richten müssen, das Gesetz „rechtskonform“ zu gestalten (Kommentar zum GG … S.9/10). Legislative und Judikative sind beide durch unterschiedliche Rechtsquellen legitimiert, Recht zu schöpfen. Aus der Legitimation der Judikative erwächst jedoch nur die Kompetenz, im Namen des Rechts Einspruch zu erheben.
Die notwendig werdende Gesetzesänderung bleibt allein dem Gesetzgeber vorbehalten.
In Anlehnung an dieses Beispiel wäre für die neuartige Gewaltenteilung zwischen Staat und Aktivbürgern ein Einspruchsrecht der Bürger denkbar, das beim Gesetzgeber eine Gesetzesänderung erzwingen würde. In einem solchen Fall bliebe nur noch der Zeitraum festzulegen, in dem die Änderung zu vollziehen ist.
Was die von Hill geforderte Gemeinwohlprüfung durch den Gemeinderat anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass der Staat schon seit langem seine Alleinbestimmung des Gemeinwohls aufgegeben hat bzw. aufgeben musste. Am Beispiel der geringen Gegenwehr, den die vergangenen zwei Bundesregierungen und die jetzige den Gemeinwohlbelangen der transnationalen Unternehmen und des Finanzkapitals entgegen gesetzt haben, könnte sich z. B. das Ausmaß der Gemeinwohlprüfung im Falle von Gemeinwohlbelangen aus der Aktivbürgerschaft orientieren; steht doch die den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zugeordnete Handlungslogik dem Demokratieideal sehr viel näher als die gewinn- bzw. geldorientierte Handlungslogik von Unternehmen und Finanzkapital.
Angesichts der Schwäche des Staates gegenüber Wirtschafts- und Finanzunternehmen wäre die Zivilgesellschaft in der Tat ein relevanter Partner des vielgliedrigen Staates. Die verschiedenen Ansätze zur Stärkung des zivilgesellschaftlichen Charakters der Verwaltung sind sowohl im Bereich der Leistungserbringung wie in der Aktivierung der Bürger also durchaus ausbaufähig.
Ein scheinbar unüberwindbares Hindernis bleibt jedoch das Maß an Selbstrepräsentation der Repräsentanten in einer repräsentativen Demokratie. So bemängelt Christoph Reichard „dass die repräsentative Politik (…) ihre eigenen Interessen verfolgt und nur sehr begrenzt und in Randbereichen bereit ist, Entscheidungskompetenzen an die Bürger abzugeben (ebd. S.217). Die Lebenslüge etablierter Demokratien, dass in ihnen der Staat ausschließlich uneigennützig in der Repräsentation der Repräsentierten handele, wird zum Haupthindernis in der zivil-gesellschaftlichen Öffnung der Hierarchie. Selbstrepräsentation der Staatsvertreter und pekuniäre Zuwendungen aus Wirtschaft und Finanzkapital finden – wie leider die Erfahrung zeigt – nun einmal eher zusammen als die zu gemeinsamen Handeln von Staat und Zivilgesellschaft auffordernde Beschwörung, das Demokratieideal gemeinsam hochzuhalten.
Dringlicher als je zuvor stellen sich also folgende Fragen:
Welchen Legitimationskriterien muss heutzutage Herrschaft genügen, um als Herrschaft des Volkes anerkannt zu werden?
Auf welche Weise kann die Selbstrepräsentation der Repräsentanten des Volkes auf ein Minimum zurückgedrängt werden?
Wie muss die Idee der Volkssouveränität fortgeschrieben werden, um weiterhin glaubwürdig zu bleiben?
Welche Vorkehrungen sind zu treffen, um in einer Siedlergesellschaft den Staat vor seiner Inanspruchnahme als Herrschaftsinstrument des Geldadels zu schützen?
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